Doodle und das Kind der Nacht
Es war eine dieser Nächte, in denen der Himmel besonders klar war und die Sterne hell wie winzige Laternen über der Welt leuchteten. Der Wald flüsterte leise mit den Blättern, als wollte er eine alte Geschichte erzählen, und irgendwo zwischen Moos und Mondsilber stand ein Kind mit klopfendem Herzen und zittrigen Fingern.
Sie hieß Mia. Ihre Taschenlampe war ihr aus der Hand geglitten, als sie in der großen Pfütze ausgerutscht war. Jetzt lag sie irgendwo hinter ihr im matschigen Dunkel, blinkte ein letztes Mal und versank dann, wie ein kleiner Stern, der keine Lust mehr hatte zu leuchten. Der Wald war eigentlich ihr Freund – ein Ort voller Verstecke, Gerüche und Erinnerungen. Aber heute war er groß und schwarz und knarzte unheimlich. Die Schatten sahen aus wie Wesen mit krummen Fingern, und jeder Ast, der knackte, ließ sie zusammenzucken.
„Hast du dich auch verlaufen?“ hörte sie plötzlich eine Stimme, leise wie Wind, weich wie Wolle.
Mia drehte sich um – und da stand es: Ein kleines weißes Alpaka mit schiefen Ohren. Eines zeigte nach oben, das andere fiel ein bisschen zur Seite, als hätte es keine Lust, sich an die Regeln zu halten.
„Wer… wer bist du?“ flüsterte Mia.
„Ich bin Doodle“, sagte das Alpaka und blinzelte schelmisch. „Und ja, ich kann sprechen. Aber nur nachts. Und nur, wenn’s wirklich wichtig ist.“
Mia wischte sich eine Träne von der Wange. „Ich find den Weg nicht mehr.“
Doodle nickte. „Das macht nichts. Ich kenn ihn. Und wenn du magst, dann geh ich mit dir. Aber ich geh langsam. Ich bin schließlich kein Pferd.“
Die beiden machten sich auf den Weg, Doodle tapsend, Mia barfuß, weil sie ihre Schuhe in der Pfütze verloren hatte. Ihre Zehen waren kalt, doch Doodles Fell war warm, und manchmal, wenn sie fror, schmiegte sie sich an seine Seite. Die Nacht war still, aber keine bedrohliche Stille – eher eine wartende. Über ihnen blinkten Sterne wie neugierige Augen, und manchmal sprangen Glühwürmchen um sie herum, als wollten sie tanzen. Doodle hielt Mia mit seiner warmen Wolle am Rücken, wenn sie zu sehr fror.
„Warum sind deine Ohren so schief?“ fragte Mia irgendwann, als der Weg sich zwischen Farn und Wurzelwerk hindurchschlängelte.
„Damit ich besser hören kann, wenn Kinder traurig sind“, antwortete Doodle. „Das linke Ohr hört Tränen, das rechte Ohr hört Wünsche.“
Mia lachte leise. „Und was, wenn ich beides habe? Tränen und Wünsche?“
Doodle schnaubte, als wäre das eine sehr wichtige Frage. „Dann stellen sich meine Ohren ganz besonders schief. So schief, dass sogar der Mond lachen muss.“
Plötzlich blieb Doodle stehen. „Pfütze voraus! Achtung! Das ist die berühmte ‘Große Mondpfütze’. Wer da reinschaut, sieht einen Wunsch von früher.“
Neugierig beugte sich Mia über die spiegelglatte Fläche. Ein Bild erschien – sie und ihr Opa beim Drachensteigen. Der Himmel war hell, der Drachen rot mit einem langen flatternden Schwanz, und ihr Opa hielt ihre Hand. Sie schluckte. „Der ist nicht mehr da.“
Doodle sagte nichts. Stattdessen legte er seine Stirn an ihre Schulter. „Aber du hast ihn noch im Herzen. Und Herzen sind die besseren Taschen.“
Mia lächelte. Es war kein großes Lächeln, aber eins mit Bedeutung.
Sie gingen weiter, und Doodle erzählte Geschichten. Von einer Eule mit Brille, die nachts Gedichte schrieb. Von einem Fuchs, der Angst vor der Dunkelheit hatte, obwohl er selbst orange leuchtete. Und von einer Wurzel, die nicht wachsen wollte, weil sie glaubte, sie sei nicht wichtig.
„Und was ist mit dir?“ fragte Mia. „Hast du auch eine Geschichte?“
Doodle nickte. „Ich war mal ein Schatten.“
„Ein Schatten?“
„Ja“, sagte Doodle und sah in die Sterne. „Ein ganz gewöhnlicher, langweiliger Schatten. Ohne Stimme, ohne Fell, ohne Ohren. Aber dann hab ich einen Wunsch gehört. Von einem Kind, das nicht schlafen konnte, weil es dachte, die Dunkelheit sei leer. Und da hab ich beschlossen, anders zu werden.“
„Und das hat geklappt? Einfach so?“
„Nicht einfach. Aber ich hab geübt. Jeden Abend. Ich hab die Dunkelheit gelauscht, den Wind gefragt, den Mond angeblinzelt. Und irgendwann bin ich aufgewacht – so wie du mich jetzt siehst. Schief, weich, und ein bisschen magisch.“
Mia sah ihn lange an. Sie glaubte ihm. In dieser Nacht glaubte sie alles.
Der Weg führte nun über ein kleines Bächlein, das im Mondlicht glitzerte. Doodle sprang mit einem eleganten Satz hinüber. Mia zögerte. Sie sah das Wasser, kalt und schwarz. Dann griff Doodle mit den Zähnen nach einem dicken Ast, legte ihn quer über das Wasser. „Brücke für Barfuß-Mädchen“, sagte er stolz.
Als sie fast am Waldrand waren, hörte sie in der Ferne ihren Namen. Nicht laut, eher wie ein Lied, das der Wind aus vertrauten Kehlen trägt. Sie ging schneller, rannte schließlich. Ihr Herz klopfte vor Freude und Erleichterung. Das Licht der Welt flackerte zwischen den Bäumen hervor wie ein versprochenes Zuhause. Die Zweige öffneten sich wie Arme, der Wald war plötzlich weich, als hätte er sie nur aufbewahrt, nicht verschluckt.
Sie drehte sich zu Doodle um.
Er stand am Waldrand, blinzelte langsam, seine schiefen Ohren wippten im Rhythmus ihres Atems.
„Geh nur“, sagte er leise. „Dein Licht wartet.“
Sie trat ins Helle, doch ihr Herz zögerte. Noch einmal drehte sie sich um.
Nichts. Nur das leise Flackern des Mondlichts auf einer Pfütze – als hätte jemand gewinkt.
„Doodle?“ flüsterte sie.
Keine Antwort. Nur das Rauschen der Bäume.
Dann – ein Kitzeln am Ohr.
„Doodle! Du kannst dich unsichtbar machen?!“
„Unsichtbar-Zauber“, kicherte es. „Klappt nur, wenn man schiefe Ohren hat.“
Sie lachte – hell und klar. Ein Lachen, das über die Lichtung hüpfte wie ein kleiner Vogel.
Sie rannte los. Das Herz so leicht, als hätte sie es in der Mondpfütze gewaschen.
Am nächsten Morgen lag Nebel über dem Garten. Die Welt war still und weich, als hätte die Nacht noch ein Stückchen überlebt. Auf ihrem Fensterbrett lag etwas. Ein feuchtes Blatt, ein Grashalm, sorgsam darum gewickelt.
Darauf – eine winzige Zeichnung.
Zwei schiefe Ohren.
Ein Herz.
Und ganz klein darunter, fast unlesbar, standen
die Worte:
„Nur wer träumt, findet den Weg.“
Mia hielt das Blatt fest. Draußen begannen die
Vögel zu singen, und irgendwo, ganz leise, hörte sie
ein „Pfütz!“ – ein Geräusch, das nach Nacht und
Glühwürmchen klang.
Sie wusste, Doodle war nicht weg. Nicht wirklich.
Denn manche Freunde bleiben. Auch wenn man sie nicht
mehr sieht. Man spürt sie – in schrägen Ohren, in
warmen Worten, in der Art, wie die Dunkelheit
plötzlich ein bisschen weniger dunkel ist.